Projekte sind für viele Streetfotografen »der Hund, den man Gassi führen muss« – hier ist eure Motivation, um raus zu gehen.
Projekte sind ein gebräuchlicher Teil der Streetfotografie. Oft scheint es eine Bedingung zu sein, »an einem Projekt zu arbeiten«, als einfach nur Streetfotos zu machen. Eigentlich ist es das Leben auf der Straße, das die Streetfotografie ausmacht. Doch wie bei jedem anderen künstlerischen Ansatz bleibt auch hier der Bedarf für eine Motivation. Es sollte kein Trick sein, aber falls ihr »einen Hund habt«, muss der jeden Tag Gassi geführt werden.
Anfänger der Streetfotografie klagen oft: »Was soll man fotografieren, wenn man rausgeht?« Ganz einfach: Nehmt über einen bestimmten Zeitraum Fotos auf und dann zeigt sich von selbst, wo ihr landet. Ihr merkt vielleicht, dass ihr viele Bilder von Fahrrädern oder Regenschirmen habt. Möglicherweise ist es auch etwas mit einem breiteren Erzählrahmen, einer einzelnen Emotion oder einem Ort.
Elliott Erwitt führt ein Archiv seiner Interessen, aus denen Bücher geworden sind. Verleger erkennen zwar das Potenzial, das sich dahinter verbirgt, wenn man Bilder gruppiert, doch ist es interessant, die »Stapel an Fotografien« von jemandem wie Erwitt zu sehen. Er hat nicht nur Bücher über Hunde gemacht, sondern auch über Hände, Museen, Strände und Kinder. Eine weitere US-Fotografin, die mit Themen Erfolg hat, ist Sylvia Plachy. Ihr Buch Signs and Relics (1999) enthält thematische Abschnitte wie Flug, sitzen, Rahmen, Raum, Besessenheit, Rundheit und Bäume. Vermutlich hat sie diese Themenvielfalt erreicht, indem sie ihre Fotos ursprünglich in unterschiedliche Stapel aufgeteilt hat. Anschließend hat sie sich bewusst mit den Themen befasst. So sollte es sein. André Kertész’ Buch On Reading (1971) wurde bescheiden beschrieben als »eine kleine Anzahl an Fotografien verschiedener Leute, die lesen«. Diese Idee ist heute immer noch aktuell und schließt mittlerweile sogar E-Books ein. Das ist ein Projekt – Aktualisieren eines klassischen Fotobuchs.
Projekte können der Lebenssaft eines Streetfotografen sein, und mehrere Projekte im Kopf des Fotografen – einige vage, andere schon weiter entwickelt – verleihen seinem Herumwandern in den Straßen einen Zweck. Eines meiner laufenden Projekte besteht darin, Herzen zu »sammeln«. Herzen sind ein universelles Thema. Von Pfeilen durchbohrte Herzen werden an Mauern geschmiert und erklären, dass die eine genannte Person die andere liebt. Befriedigender allerdings sind Gelegenheiten, bei denen die Form eines Herzens ganz natürlich und manchmal überraschend auftaucht.
Ein Mann, der an einem Londoner Geschäft vorbeigeht, trägt die Überreste eines Herzens, eine rote Plastiktasche, das aussieht, als sei es von dem Hemd im Fenster heruntergerissen worden. Es ist schon recht viel Fantasie vonnöten, um das zu erkennen, aber wenn man Herzen sammelt, ergibt sich die Möglichkeit ganz von selbst. Eine Frau lehnt zärtlich an einem großen Baum, in dessen Stamm ein Herz geschnitzt ist, und zwei Fahrrädern – ganz klar verliebt ineinander. Bestätigt wird dies durch die Herzform des Hintergrundfensters. Mein ursprünglicher Plan sah vor, zwölf Herzen für einen Valentinstagskalender zu sammeln. Doch wer weiß, wohin dieses Projekt noch führen wird?


Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „Streetfotografie“ von David Gibson. Alle Infos zum Buch, das Inhaltsverzeichnis und eine kostenlose Leseprobe findet ihr bei uns im Shop.